Märchenerzähler/in
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Was bewirken Märchen bei Kindern?
Das Kind erhält die Möglichkeit, in der Begegnung mit lebensnahen Wertesystemen und spirituelle Fragen in Märchen und Geschichten eigene Standpunkte zu finden sowie Wertschätzung und Offenheit
anderen gegenüber zu entwickeln. Kinder lernen durch Märchen und Geschichten:
• Konzentriert zuhören und sich dem Erzähler aufmerksam zuwenden
• Beim Zuhören innerlich und äußerlich zur Ruhe kommen
• Die Stimmung genießen, damit innere Bilder entstehen können
• Einander wahrnehmen, Blickkontakt aufnehmen
• Die Geschichte mit allen Sinnen erfahren und erleben
• Sich den Handlungsablauf einprägen und wiedergeben können
• Konflikte veranschaulichen und Lösungen finden
• Auf Werte achten wie »Was ist gut, was ist böse?« – »Wahrheit und Lüge« – »Frieden und Streit« – »Liebe und Hilfsbereitschaft« – »Zufriedenheit und Gier« – »Rechtes und falsches Handeln« –
»Gewalt und Gewaltlosigkeit«
• Im Rollenspiel das Verhalten der Märchenfiguren bewusst erleben
• Stimmungszustände wie Freude, Trauer, Ärger oder Wut ausdrücken
• Erfahren, dass Schwächen, Fehler und ebenso eine Kultur des Verzeihens und der Umkehr zum Leben dazugehören
• Sprach- und Verhaltensmuster einüben und den Wortschatz erweitern
• Gemeinsam zuhören, erzählen, spielen, basteln, malen
Susanne Stöcklin-Meier
Ein Schneeschuhhase und ein Wollschwanzhase waren Freunde. Sie lebten in einem kleinen Wald am Fluss und gingen gemeinsam auf Futtersuche. Schneeschuhhase hatte gehört, dass es im Norden so
wunderbar sei und so beschloss er, eine Reise dorthin zu machen. Wollschwanzhase aber hatte gehört, dass es im Süden so schön warm sei und er wollte nach Süden reisen. «Wenn du im Süden
bist», sagte Schneeschuhhase, «dann lass mich wissen, wie es dir dort ergeht.»
«Wenn du im Norden bist», sagte Wollschwanzhase, «dann lass mich wissen, wie es dir dort gefällt.»
Sie verabschiedeten sich und jeder zog seines Weges, der eine nach Norden, der andere nach Süden. Wie sie versprochen hatten, schickten sie einander Nachricht durch die Vögel, die im Frühling
nach Norden fliegen und im Herbst nach Süden.
«Lieber Freund», so lautete die Botschaft vom Schneeschuhhasen, «ich bin sehr glücklich im Norden. Die Luft ist klar, die Föhrenknospen schmecken herrlich und im Winter kann man im Schnee
herumspringen.» Der Wollschwanzhase liess durch die Vögel antworten: «Lieber Freund, es ist wunderbar im Süden. Es gibt saftige Kakteenfrüchte, es ist immer warm und man kann im Sand
herumspringen.» Als Schneeschuhhase diese Nachricht hörte, bekam er Sehnsucht nach dem warmen Süden. Wollschwanzhase aber bekam Sehnsucht nach dem kalten Norden. Vielleicht war es ja doch
schöner dort, wo der andere lebte? Bald machte sich der Schneeschuhhase auf nach Süden und der Wollschwanzhase wanderte nach Norden. Mitten auf dem Weg, in dem kleinen Wald am Fluss, trafen
sie sich. «Oh, wie schön dich zu sehen!», sprach Schneeschuhhase. «Ich will sehen, ob es im Süden schöner ist als im Norden.»
«Und ich», sagte Wollschwanzhase, «wandere nach Norden, um zu sehen, ob es mir dort besser gefällt.»
So nahmen sie Abschied voneinander und beide wanderten, bis der eine im Norden, der andere im Süden angekommen war. Eine Zeitlang fanden sie es beide wunderbar. Schneeschuhhase sprang im Sand
umher, knabberte an den Kakteenfrüchten und wärmte sich in der Sonne. Wollschwanzhase machte Purzelbäume im Schnee und war froh, dass es nicht so heiss war. Aber bald kamen die ersten
Schneestürme und er sass frierend und zitternd im Schnee und wollte nichts lieber, als wieder nach Süden. Dem Schneeschuhhasen erging es nicht besser. Mit jedem Tag wurde es heisser, selbst
im Schatten war es viel zu warm und er sehnte sich nur noch nach dem kühlen Norden. Schliesslich wanderten beide wieder zurück. Der Wollschwanzhase Richtung Süden, der Schneeschuhhase nach
Norden. Mitten auf dem Weg, in dem kleinen Wald am Fluss, trafen sie sich. «Wie schön dich zu sehen!», sagte der Wollschwanz-hase. «Aber hör mal, für mich ist diese Kälte und der Schnee
nichts, ich gehe lieber wieder in den Süden.» «Und mir gefällt die grosse Hitze nicht, ich will lieber wieder in den kühlen Norden», sagte der Schneeschuh-hase Beide machten sich wieder
auf den Weg und als Schneeschuhhase im Norden angekommen war, knabberte er fröhlich an den Föhrenknospen und tollte im Schnee herum. Wollschwanzhase aber ging es besser, je wärmer es wurde,
und glücklich knabberte er an den Kakteenfrüchten und legte sich in die warme Sonne. Sie schickten sich manchmal Grüsse über die Vögel, die von Norden nach Süden und zurück flogen, und
manchmal im Traum spielte Schneeschuhhase im warmen Sand und Wollschwanzhase träumte von weissen Schneeflocken, aber mit dem anderen tauschen, das wünschten sie sich nicht mehr.
Märchen aus Nordamerika
©Mutabor Verlag, aus: Märchenkalender A4
Märlistation St. Gallen
Dekorierter Märlistein von Trudi Gerster im Stadtpark